Die Villa

August. Eine Woche Urlaub, der keiner würde. Koffer, Kästen, Schachteln. Und der Garten. Maria fuhr beim Kreisverkehr rechts und bog in die Weilburgstraße ein. Sie stellte das Auto in die Einfahrt und versperrte das Tor von Innen. Der letzte Abend mit Bernhard war schön wie früher. Ihr Bruder wollte nichts aus dem Haus. Er wollte ihr helfen, coole Möbel für ihre neue Wohnung zu finden, bevor er wieder zurückflog. Mit ihrem Bruder wäre es heute leichter, die letzten Reste aus dem Haus zu entsorgen. Die meisten Möbel hatte sie in den letzten Wochen verkauft, nur den kleinen Rokokoschreibtisch und ein Fauteuil behalten. Beides stand schon in ihrer neuen Dachgeschosswohnung im siebten Bezirk. Sie hatte sich in dieser Woche zwei anstelle von einer Therapiestunde vereinbart. Ihre Therapeutin hatte es ihr angeboten. Die Übergabe der Villa an die neuen Besitzer war für zehnten August vereinbart. Eine Familie aus USA. Er sprach ein wenig Deutsch, seine Großeltern sollen hier gewohnt haben. Maria ging durch das fast leere Haus. Im Keller standen noch Kisten. In der Küche hatte sie letzte Woche die Medikamente ihrer Mutter in einem Plastiksack verstaut, um ihn heute noch in der Apotheke abzugeben. Einige Bilder lehnten im Foyer an der Wand und standen zum Abtransport bereit. Für morgen war ein auf Kunst spezialisierter Wiener Antiquitätenhändler angemeldet. In dem ehemaligen Büro des Großvaters im ersten Stock waren noch volle Kartons auszusortieren. 

Wo anfangen? dachte Maria. Das Telefongespräch kam gerade recht. Barbara hatte für heute nicht frei bekommen, sagte: „Aber ab Morgen bin ich bei dir und unterstütze dich. Du kannst mich zwischendurch immer anrufen. Immer. Fang irgendwo an oder schmeiß’ einfach alles weg!“ 

Maria fing an. Im Keller. Von unten nach oben. Alte Zeitungen aus den 1960ger Jahren, Express, Neue Presse, Kurier um einen Schilling. Darunter medizinische Unterlagen aus dem allgemeinen Krankenhaus, Rechnungen, die zu alt waren, um sie aufheben zu müssen, leere Ordner, Lieferscheine. Und die Wunderwelt, die hatte sie gerne gelesen. Auch Bravo, aber das war später. 

Alles weg. Sie warf mehrere volle Schachteln mit Papier in den im Innenhof bereitgestellten Container. Einen Koffer stellte sie neben die Mülltonnen in der Hoffnung, die Müllabfuhr würde ihn mitnehmen. Nach zwei Stunden suchte sie einen Gartenstuhl zum Pausieren und trank eine Tasse Espresso. Sie hatte eine kleine Kaffeemaschine mitgenommen. Dann arbeitete sie im ersten Stock weiter. Sie blieb am Gang vor dem ehemaligen Büro von Opa stehen und sah zwei beschriftete Kartons, die sie noch entsorgen musste. Früher mied sie dieses Zimmer. Es war dunkel eingerichtet, mit schweren altdeutschen Möbeln und ihre Eltern hatten es nach seinem Tod wie zu seinen Lebzeiten belassen. Schnell hinein und weg damit, nahm sie sich vor. 

In dem einen Karton lagen alte medizinische Bücher, Lehrbücher aus den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Zumindest stand dies darauf, in Blockschrift. Die andere Kiste machte Maria neugierig. Sie erkannte darauf die Schrift der Großmutter. Kurrent. Mit dem Stanlymesser war der Karton leicht zu öffnen. Sie fand alte Buchhaltungslisten aus glattem, beigem Papier mit senkrecht gezogenen, dünnen und dicken Linien. Zeitungen, diesmal aus den neunzehnhundertvierziger Jahren, Briefpapier, ebenfalls beige, aber dicker und rau, auf denen oben links stand: Univ. Prof. Dr. Franz Wartha, Gynäkologe, Baden, Weilburgstraße 42. In Frakturschrift. Einige Bögen waren mit Schreibmaschine beschrieben. Viele leere, dazu passende Kuverts lagen daneben, auch alte Bleistifte, ein Spitzer und Hefte mit blauem Deckel. Auf einem der Hefte stand: Aufzeichnungen 1942/15. Weitere, alle mit blauem Einband, lagen darunter, ein Stoß aus verschiedenen Jahren, von 1941 bis 1945. Sie öffnete Eines. Zahlen, Notizen, Daten. Alles handschriftlich. Opas Schrift. Ein eingeklebtes Blatt fiel heraus, der Klebstoff hielt nicht mehr. Es war ein Brief, oder ein Aktenvermerk.

Fleckfieberimpfstoff Versuchsreihe VIII/15.

15. 4. 42.  Auf Anregung von Oberstarzt Dr. Greidler an dreißig Frauen geprüft durch Impfstoff „Kopenhagen“ – hergestellt aus Mäuseleber vom Staatlichen Kopenhagener Seruminstitut in Kopenhagen, intramuskuläre Injectionen in den musculus gluteus, maximal Schutzgeimpft 

  8. 3. 42   0,5 ccm

13. 3. 42   0,5 ccm

18. 3. 42   1,0 ccm

24. 3. 42   4 Frauen durch subcutane Injection mit 1,2 ccm Fleckfiebererkrankung-Frischblut infiziert. Davon 

6 Todesfälle (Kopenhagen), 

6 Todesfälle (Kontrolle)

Kurvenblätter und Krankengeschichten nach Berlin übersandt.

gez. Oberstarzt Dr. Franz Wartha, Gynäkologe und Virologe, Sterilisations- u. Virusforschung am Hygiene Institut der Waffen SS.

Maria überflog das Geschriebene mehrmals. Sie stopfte das Blatt in ihre Handtasche und nahm ein weiteres Heft in die Hand. 

194/18.

12. 8. 41.  Wurde heute zum Direktor der Frauenklinik ernannt. Große Ehrung 10 Uhr im Festsaal. Fuhr am Nachmittag mit Mimsi an die Donau zum Fischessen.

Mimsi sagte Opa immer zu ihrer Großmutter. Maria war nach ihr benannt. Sie legte eine der alten Zeitungen auf den Fußboden und setzte sich darauf. 

14. 8. 41.  Wenig Platz in der Klinik. Musste Ruhigstellungen verordnen. Patienten in die Sterbeabteilung verlegt. Ab 16. 8. ist „spezielle Medizin“ zu verordnen. 

20. 8. 41.  Heute eine große Anzahl von an Schizophrenie erkrankten Frauen zu Versuchszwecken eingetroffen. 

Maria warf das Heft in ihre Tasche und zog ein weiteres aus dem Karton. 

22. 5. 42.  Injektionen wie immer. Anstrengender Tag. 

24. 5. 42.  Müssen die Dosierung Veronal und Luminal erhöhen. 

28. 5. 42. Patienten fehlen, um weitere Versuchsreihen durchführen zu können.

15. 6. 42. 30 geeignete Zigeunerinnen wurden überstellt. Versuchsreihe VIII/25 für neuartiges, Unfruchtbarkeit auslösendes Medikament kann nun durchgeführt werden. 

 

Sie nahm alle blauen Hefte, zog auch die unten liegenden hervor und stopfte sie in ihre Handtasche, die sonst immer zu groß war. Dann lief sie mit der halbleeren Kiste in den Hof, warf sie in den Container und setzte sich in das kleine Wäldchen, das am hinteren Ende des Gartens lag. Sie rief Barbara an.