Von da an war alles anders

Er sagte alle Termine des Tages per SMS ab. Telefonieren hätte Rückfragen geweckt. Zehn Uhr sechszehn. Bis zwölf musste sich alles ausgehen, was er sich vorgenommen hatte. Und nachher? Nichts. Finster, dachte er, obwohl er das nicht wusste, wissen konnte. An Himmel oder solches Zeug glaubte er nicht. Doch wer weiß, in solch einem Moment wird man wieder gläubig. Eine Geschichte musste er noch schreiben, nur eine, eine kurze. Vorher noch sein Testament so verstecken, dass es gefunden werden konnte. In einem Buch? In einem Kafka? In Wunschloses Unglück? In Ab jetzt ist Ruhe, ihr erster Roman, der war gut. Die Entdeckung des Himmels passte. Sein letzter Wille fand Platz zwischen Buchdeckel und leerer Seite. Das Bett richten, Geschirr waschen, Bad putzen. Seinem Sohn sollte keine chaotische Wohnung überlassen werden. Auf der Klobrille sitzend, überlegte er, worüber er schreiben wollte. Wegen der Kürze der Zeit, die er noch hatte, musste er die Geschichte in einem Zug schaffen. Das empfahl ihm seit Jahren sein Lektor, einfach herunterschreiben, wie er es nannte, einfach. Das hatte er bis heute nicht geschafft. Und würde es heute auch nicht. Immer besserte er aus und die Geschichten wurden niemals fertig. Das wäre doch eine Idee, eine seiner unfertigen Geschichten abschließen. Im Ordner ›Kurzgeschichten‹ waren sie gelagert. Zum Schreibtisch nahm er Kaffee und Zigaretten mit, sein Arzt hatte ihm nichts mehr zu sagen. Er öffnete den Laptop. Welche Geschichte nehmen? Die über seinen Bruder? Er würde sich kränken, auch wenn er tot war. Über seinen Sohn? Kinder mögen nicht, wenn man über sie erzählt. Die autobiografische, sie schleppte er seit Jahren mit sich herum, in jedes Hotel, in jeden Urlaub. Er hängte sich eine Zigarette zwischen die Lippen, putzte den Schirm und die Tischplatte, richtete alles Umherliegende in rechte Winkel und begann die Geschichten neu zu ordnen. Nach Datum oder nach Titel? Knapp vor elf öffnete er die Datei ›Von da an war alles anders‹. Die Geschichte war besser als er bisher dachte und fand schade, sie nicht mehr veröffentlichen zu können. Er fand Tippfehler, besserte aus, änderte Formulierungen. Inzwischen war es elf Uhr zehn geworden. Der Zeitdruck, den er immer vermeiden wollte, ließ seine Hände zittern. Jetzt nur noch einen Schluss finden. Wenn das so einfach wäre. Abschlüsse sind schwieriger als jeder Beginn. Meditieren hatte er auch geplant. Seinen Abschied wollte er bewusst erleben. Die meisten Menschen bemerken nicht, wann Schluss ist. Entweder sie verschwinden in geistiger Umnachtung, oder sie schlafen ein und wachen nicht mehr auf. Wie Opa. Oder Herzinfarkt. Einfach aus. Zack. Ende. Zu Mittag bekam ich von meiner mir fremden Mutter geröstete Knödel mit Ei, die ich über den Tisch kotzte. Sie nahm das damals noch nicht persönlich, wahrscheinlich, weil ich gerade erst angekommen war. Wäre das ein guter Schluss? Unsicher las er weiter. In dieser Nacht wurde ich wach. Ich glaube, es war bereits nach Mitternacht, das vorhanglose Zimmer war dunkel. Ich hörte Schreien. Der neue Mann schrie und beschimpfte meine Mutter, sie schrie zurück, unterbrochen von Heulen und Kreischen. Dass Schläge den Streit begleiteten, wurde mir erst später klar. Schrecklich, er hatte schon vergessen wie arm er damals war. 1968 lief ich davon. Von da an war alles anders. Der Satz ist gleich wie der Titel. Ihn nehme ich als Schluss. Die Geschichte war längst fertig und er wusste es nicht. Er schüttelte den Kopf, druckte den Text aus, zog die handgefertigte Flügelmappe, die er auf dem Weihnachtsmarkt gekauft hatte, aus der Lade hervor, legte die Blätter hinein, klappte die Mappe zu, band darum eine grüne Schleife und legte sie in die Mitte seines Schreibtisches. Kurz vor zwölf Uhr saß er im Schneidersitz, aufrecht wie sein Yogalehrer, glücklich, eine Geschichte beendet zu haben.

 

Juni 2022

Reinhard Tötschinger